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Klopotek & Co. Personalstammkarten der Ewald-Kohle AG

Wie viele Menschen im 19. und 20. Jahrhundert insgesamt im Ruhrbergbau gearbeitet haben, lässt sich heute nicht mehr ermitteln – ihre Zahl geht aber in die Millionen. Sieht man von den Angehörigen der höheren und teils auch der mittleren Führungseliten – Vorstandsmitgliedern, Bergwerksdirektoren oder teilweise auch leitenden technischen Angestellten – ab, so bleibt die Masse der einfachen Bergleute in der Regel anonym. Gleichwohl haben auch sie Spuren in den archivalischen Überlieferungen hinterlassen, Spuren allerdings, die oftmals recht aufwendig gesucht und gefunden werden wollen.

Archive bewahren eine Vielzahl unterschiedlicher personenbezogener Unterlagen in ihren Beständen: Personalkarteien, Belegschaftslisten, Arbeitsbücher, Lohn- oder Schichtenbücher u. a. m. So auch das montan.dok/Bergbau-Archiv Bochum, wobei diese Quellen oftmals nur partiell und für viele ehemalige Bergwerke überhaupt nicht überliefert sind. Das liegt auch daran, dass die Archive solche seriellen Massenakten nach fachlichen Grundsätzen bewerten müssen und nur in Auswahl überliefern können. Die Unterlagen sind in der Regel nach archivischen Standards mehr oder minder oberflächlich erschlossen. Dies ist für genealogische und auch für andere Forschungen aber meist nicht ausreichend, zumindest macht es die Recherche und die Auswertung der Unterlagen recht aufwendig. Das zeigen nicht zuletzt die genealogischen Anfragen, die das montan.dok in wachsender Zahl erreichen und die das hohe Interesse der Öffentlichkeit an diesen Quellen belegen. Dabei bietet gerade die Digitalisierung neue Potenziale für eine Inwertsetzung für genealogische und Forschungen etwa zur Sozial- und Kulturgeschichte, zur Stadt- und Landesgeschichte oder zur Geschichte der Migration. Ein Beispiel hierfür ist der Bestand montan.dok/BBA 4, Ewald-Kohle AG, Recklinghausen.

 

Der Aufschwung des Ruhrbergbaus seit Mitte des 19. Jahrhunderts wäre ohne eine ausreichende Zahl an Arbeitskräften nicht denkbar gewesen. Bis weit in die 1950er-Jahre hinein blieb die Kohlengewinnung vor Ort weitgehend Handarbeit, so dass die Förderleistung eines Bergwerks unmittelbar von der Belegschaftsstärke abhing. So zog der Bergbau seitdem Menschen aus allen Regionen Deutschlands und auch aus anderen Ländern in das Ruhrgebiet, dessen Bevölkerung seit Mitte des 19. Jahrhunderts rasant auf knapp vier Millionen Menschen im Jahr 1933 anwuchs. Ähnliches gilt für die Zahl der im Bergbau Beschäftigten. Für das Jahr 1804 nennt die Statistik gerade einmal 3.057 Arbeiter und Angestellte unter und über Tage, 1885 waren es erstmals mehr als 100.000 und 1922 wurde mit 576.644 Menschen der historische Höchststand erreicht. 

 

Die Migration in das Ruhrgebiet folgte dabei den Entwicklungsschüben der Region. Mitte des 19. Jahrhunderts kamen Arbeitskräfte zunächst überwiegend aus den umliegenden Regionen. Seit den 1870er-Jahren speiste sich der anschwellende Zustrom zunehmend aus den östlichen Landesteilen des Königreichs Preußen. Während des Ersten und des Zweiten Weltkriegs mussten Millionen ausländischer Arbeiter und Kriegsgefangener unter menschenverachtenden Bedingungen Zwangsarbeit leisten. Nach 1945 deckten zunächst Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemals zum Deutschen Reich gehörenden Landesteilen im Osten und aus der DDR den Arbeitskräftebedarf der Ruhrindustrie, bevor dann während des „Wirtschaftswunders“ seit etwa Mitte der 1950er-Jahre zunehmend als „Gastarbeiter“ bezeichnete Arbeitskräfte vor allem in Süd- und Südosteuropa angeworben wurden.

 

Ein durchaus typisches, in Teilen auch spezielles Beispiel für diese Entwicklungen ist das Steinkohlenbergwerk Ewald in Herten. Im Jahr 1871 gründete der Gewerke Wilhelm Hagedorn zusammen mit Ewald Hilger, Hugo Honigmann, Karl Heyden und Wilhelm Schürenberg die Gewerkschaft des Steinkohlenbergwerks Ewald. Bereits im folgenden Jahr begann das Abteufen eines ersten, 1888 eines zweiten Schachtes. Seit 1895 entstand eine weitere Anlage im Westen des Grubenfeldes mit den Schächten Ewald 3 und 4. Die Gründerkrise und die danach unstete Konjunktur, aber auch lagerstättenbedingte und technische Schwierigkeiten hemmten den Aufschwung der Gewerkschaft Ewald zunächst erheblich. Im Volksmund wurde sie deshalb zuweilen „Zeche Elend“ genannt.

 

Erschwerend kam der Mangel an qualifizierten Bergleuten hinzu. Konnte der Arbeitskräftebedarf anfangs noch aus dem Umfeld gedeckt werden, so war man für den weiteren Ausbau der Zeche auf den Zuzug aus ferneren Regionen angewiesen. Das Unternehmen führte deshalb in Schlesien, Nordböhmen und im Erzgebirge mehrere Anwerbungskampagnen durch. Offenbar war es aber nicht einfach, Bergleute nach Herten zu locken, wie die Festschrift zum fünfzigjährigen Gründungsjubiläum der Gewerkschaft vermerkt: „Die Lage der Zeche, fern von größeren Städten, inmitten des großen Waldes, hatte nichts Verlockendes für auswärtige Bergleute.“ 

 

Erst seit Anfang der 1890er-Jahre ging es mit Ewald bergauf. Förderung und Belegschaft stiegen bis zum Ersten Weltkrieg beinahe kontinuierlich, und die Anlagen wurden weiter ausgebaut. In der Spitze waren über 9.300 Menschen (1921) auf dem Bergwerk Ewald beschäftigt; damit gehörte Ewald zu den größten Bergwerken im Ruhrgebiet. 

 

Aus heutiger Sicht kann es wohl als Glücksfall bezeichnet werden, dass mit der Übernahme der Altregistratur der Ewald-Kohle AG in den Jahren 1970, 1972 und 1976 auch eine ungewöhnlich dichte Personalüberlieferung in das damals noch junge Bergbau-Archiv Bochum gelangte. Sie wurde als Dokumentation der Belegschaftsentwicklung einer Ruhrgebietszeche exemplarisch in Gänze archiviert, aber nur flach durch eine Titelaufnahme erschlossen. Neben verschiedenen Listenwerken z. B. zu Haueranwärtern und -prüfungen, zu einberufenen und zurückgekehrten Soldaten oder zu Kriegsgefangenen und so genannten Ostarbeitern enthält der Bestand vor allem 39 Archivalieneinheiten mit mehreren tausend Personalstammkarten, die den Zeitraum von etwa den 1920er- bis Ende der 1940er-Jahre abdecken. 

 

Als 2023 in Kooperation mit dem Verein für Computergenealogie e. V. (CompGen) als einer führenden genealogischen Fachvereinigung in der Bundesrepublik Deutschland sowie mit „Familien Zusammenführung im Team“ (FaZIT) in Essen, einer Gruppe engagierter Bürgerwissenschaftler:innen, ein Projekt zur Digitalisierung und Tiefenerschließung genealogischer Quellen aufgesetzt wurde, bot sich diese selten dichte Personalüberlieferung geradezu an. Zunächst ist ein erstes, datenschutzrechtlich unbedenkliches Quellenkonvolut mit über 1.400 Personalkarten durch ehrenamtliche Citizen Scientists im montan.dok digitalisiert, durch CompGen in dem Online-Dateneingabesystem (DES) bereitgestellt und von einer definierten Community tiefenerschlossen worden. 

 

Ein erster Blick auf die bislang erfassten Daten lässt bereits die Forschungspotenziale nicht zuletzt aus einer mikro- oder lokalgeschichtlichen Perspektive erahnen. Beispielsweise verweisen die Geburtsorte der Beschäftigten des Bergwerks Ewald auf die hohe Heterogenität der Zechenbelegschaft hinsichtlich ihrer Herkunft und lassen künftig hierzu genauere Aussagen zu. Gleiches gilt für die Rolle von Frauen, deren Anteil mit etwa 10 Prozent recht hoch erscheint. Die Bergarbeit galt und gilt als eine reine Männerdomäne, und für die Arbeit der Schlepper oder Hauer unter Tage wird dies durchaus bestätigt. Frauen waren vorrangig in der Werksküche, der Wäscherei oder als Putzhilfe beschäftigt. In einzelnen Fällen mussten sie sich aber auch als Kauenwärterin, Kraftfahrerin, Magazinarbeiterin oder Maschinenputzerin in einem männlichen Arbeitsumfeld behaupten. 

 

Das Kooperationsprojekt ist langfristig angelegt, und neben der Personalüberlieferung der Ewald-Kohle AG harren Belegschaftsüberlieferungen weiterer Zechen im montan.dok/Bergbau-Archiv Bochum der Bearbeitung. Mit fortschreitender Digitalisierung und Tiefenerschließung werden weitere forschungsrelevante Daten generiert werden und künftig zusehends validere und auch vergleichende Aussagen ermöglichen. Wenn Sie als Bürgerwissenschaftlerin oder Bürgerwissenschaftler aktiv an diesem Prozess mitwirken wollen, dann wenden Sie sich an Dr. Maria Schäpers (maria.schaepers[at]bergbaumuseum.de) oder Dr. Stefan Przigoda (stefan.przigoda[at]bergbaumuseum.de).

 

01. Mai 2024 (Dr. Stefan Przigoda)

 


Literatur

Montanhistorisches Dokumentationszentrum (montan.dok) des Deutschen Bergbau-Museums Bochum/Bergbau-Archiv Bochum (BBA) 4/1626 und BBA 4/1632.

 

50 Jahre Gewerkschaft des Steinkohlenbergwerks Ewald, Herten (Westfalen), 1871 bis 1921, Gelsenkirchen 1924.

 

Drissen, Alfred: Chronik des Steinkohlenbergwerks Ewald Herten/Westf. Ein Gedenkbuch zum 75jährigen Bestehen zwischen 1872 – 1947 (masch. Manuskript), o. O. [Herten] 1947.

 

Gebhardt, Gerhard: Ruhrbergbau. Geschichte, Aufbau und Verflechtung seiner Gesellschaften und Organisationen, Essen 1957.

 

Goch, Stefan/Przigoda, Stefan: Bergfremd(e). Ausländer im Ruhrbergbau, in: Wisotzky, Klaus/Wölk, Ingrid (Hrsg.): Fremd(e) im Revier!? Zuwanderung und Fremdsein im Ruhrgebiet, Essen 2010, S. 222-257.

 

Projekt-Website „Verzeichnisse von Bergbaubeschäftigten“. Unter: https://wiki.genealogy.net/Verzeichnisse_von_Bergbaubesch%C3%A4ftigten (Eingesehen: 25.04.2024).

 

Przigoda, Stefan/Schäpers, Maria: Citizen Science Projekt für Digitalisierungsvorhaben im montan.dok, in: Forum Geschichtskultur Ruhr, 2024, H. 1, S. 73-74.

 

Online-Portale: montandok.de. Unter: https://www.montandok.de/objekt_start.fau?prj=montandok&dm=Montanhistorisches%20Dokumentationszentrum&ref=95370 und Archive NRW. Unter: https://www.archive.nrw.de/archivsuche?link=BESTAND-DE-Bm56_BBA-4_49a01cc0-c5ab-429b-9063-cf559b3e97b0 (Eingesehen: 29.04.2024).